"Beschneidungsgesetz" verletzt Kinderrechte

Pressemitteilung von MOGiS e.V., BVKJ - Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, TERRE DES FEMMES, (I)NTACT und pro familia NRW vom 12.12.2014

Zum zweiten Jahrestag der Verabschiedung des „Beschneidungsgesetzes” werben Ärzte- und Kinderrechtsverbände für gleichen Schutz aller Kinder in ihren Rechten auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung. Am 12.12.2012 legalisierte der Deutsche Bundestag medizinisch nicht indizierte Vorhautentfernungen („Beschneidungen”) an minderjährigen Jungen aus jeglichem Grunde als Teil der elterlichen Personensorge in §1631d BGB.

 

Zum zweiten Jahrestag dieses Gesetzesbeschlusses protestieren erneut:

  • MOGiS e.V. – „Eine Stimme für Betroffene”
  • BVKJ – Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V.
  • TERRE DES FEMMES – Menschenrechte für die Frau e.V.
  • (I)NTACT – Internationale Aktion gegen die Beschneidung von Mädchen und Frauen e.V.
  • pro familia NRW


Sie fordern:

  • Rücknahme von §1631d BGB und damit Wiederherstellung des uneingeschränkten Rechtes des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung
  • Einhaltung und Umsetzung der Kinderrechtskonvention Art 24 Absatz 3 (Abschaffung schädlicher Bräuche) für alle Kinder unabhängig von Geschlecht und Herkunft
  • Hilfen und Entschädigung der Betroffenen für die mit § 1631 d BGB verlorenen Rechte
  • männliche Todesopfer und schwerverletzte Jungen durch rituelle Vorhautentfernungen weltweit (insbesondere in Afrika) dürfen von den internationalen Hilfsorganisationen nicht weiter ignoriert werden


Victor Schiering, Koordinator des Facharbeitskreises Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V. und Mitglied des Vorstandes von MOGiS e.V. - „Eine Stimme für Betroffene”: „Das Urteil des Kölner Landgerichts vom Mai 2012 sprach erstmals auch Jungen das Recht auf körperliche Unversehrtheit an ihrem Genital zu. Dies machte vielen Betroffenen Mut, endlich offen über ihre geheimen Leiden sprechen zu können. Auch zwei Jahre nach der daraufhin erfolgten gesetzlichen Erlaubnis von Zwangsbeschneidungen suchen immer mehr Betroffene Rat und Hilfe. Wir begrüßen, dass endlich erste professionelle Angebote durch Beratungsstellen und Fachärzte für Betroffene von Vorhautamputationen entstehen. Wir fordern den Gesetzgeber auf, die Diskriminierung von Jungen zu beenden und das Recht auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung für alle Kinder zu verteidigen."

 
Dr. Wolfram Hartmann, Präsident des BVKJ – Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte: „Gesetzgeber und Gerichte interpretieren z.B. das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Bestimmung in Art. 3, Abs. 3 und in Art. 4 so, dass minderjährige Knaben hier nur ein eingeschränktes Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit haben und gemäß § 1631d BGB ihnen auch ohne medizinische Indikation allein auf Wunsch der Eltern die männliche Vorhaut (Praeputium) komplett sogar von medizinischen Laien entfernt werden darf. Jungen haben durch diese Gesetzgebung im Gegensatz zu Mädchen kein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Dies ist nicht hinnehmbar. Die männliche Vorhaut ist keine angeborene Fehlbildung, die chirurgisch korrigiert werden müsste. Die männliche Vorhaut ist ein Teil des Hautorgans und erfüllt wichtige Funktionen zum Schutz der sehr empfindlichen Eichel. Sie bedeckt normalerweise die Eichel und schützt sie so vor Schadstoffen, Reibung, Austrocknung und Verletzungen. Die Vorhaut dient als Verbindungskanal für zahlreiche bedeutende Venen. Die Beschneidung kann zur erektilen Dysfunktion beitragen, indem sie diese Blutleitungen zerstören kann. Ihre Entfernung kann, wie die Schilderungen vieler Betroffener zeigen, zu erheblichen Einschränkungen des sexuellen Erlebens und zu psychischen Belastungen führen. Keine Religion hat das Recht, zu verlangen, dass Eltern ihren minderjährigen und nicht entscheidungsfähigen Knaben einen Teil ihrer intakten Körperoberfläche entfernen lassen müssen, damit die Kinder in die Religionsgemeinschaft aufgenommen werden können.”

 
Renate Bernhard, pro familia NRW/Dokumentarfilmerin zu weiblicher Genitalverstümmelung: „Diverse Stellungnahmen nationaler und internationaler Ärzteschaften betonen die Bedeutung der männlichen Vorhaut. Sie verweisen auf die Existenz von Vorhautverklebungen und Verengungen bis ins Jugendalter (natürliche Phimosen) und widerlegen die immer noch weit verbreitete Ansicht, Phimosen seien am besten mit einer Beschneidung zu behandeln. Die Zirkumzision ist ein schwerwiegender chirurgischer Eingriff mit irreversiblen körperlichen und mitunter auch seelischen Folgen. Sie sollte deshalb nur in medizinischen indizierten Notfällen vorgenommen werden. Mit Rücksicht auf die Religionsgemeinschaften hat der Gesetzgeber in §1631d BGB Sorgeberechtigten ganz allgemein und damit sehr verharmlosend erlaubt, in die Beschneidung von Jungen einzuwilligen. Aus hygienischen oder gar ästhetischen Gründen sollte nach heutigem Stand keine Zirkumszision mehr erlaubt werden. Wir fordern staatlich geförderte Aufklärung über die Folgen von Vorhautbeschneidungen und die Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes (Artikel 3 Grundgesetz): Genitalverstümmelungen an Mädchen, die früher auch mit Religion und Tradition begründet wurden, sind 2013 endlich verboten worden. Jungen sollte das gleiche Recht zugestanden werden.”

 
Christa Müller, Vorsitzende von (I)NTACT e.V.: „Nur ein dreiviertel Jahr nach der gesetzlichen Erlaubnis der Amputation der männlichen Vorhaut von Minderjährigen wurde das Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung mit dem neuen § 226 a des Strafgesetzbuches ausdrücklich unter Strafe gestellt. Mit ihm sollte klar gemacht werden, dass alle Formen der weiblichen Genitalverstümmelung unter keinen Umständen erlaubt sein dürfen, auch die weniger schweren. Nun empfiehlt der 70. Deutsche Juristentag vom September dieses Jahres der Politik, den § 226 a geschlechtsneutral zu fassen. „Die Genitalverstümmelung bei männlichen Personen, welche in der Intensität über die traditionelle Beschneidung hinausgeht” soll nun im selben Paragraphen verboten werden. Die traditionelle Beschneidung von Jungen soll dagegen weiterhin erlaubt bleiben. Soweit die deutschen Juristen. Wer will jedoch festlegen, wie viele Quadratzentimeter Vorhaut traditionell abgeschnitten werden dürfen? Wer will die Einhaltung der „erlaubten” Quadratzentimeter überwachen? Und noch viel grundlegender: Warum darf man Jungen einen solchen Eingriff zumuten und Mädchen nicht? Diese Fragen bleiben von den Juristen unbeantwortet. Es kann auch keine vernünftigen Antworten darauf geben. Absurder geht es kaum. Es sei denn, man erlaubt die weniger invasiven Formen der traditionellen weiblichen Genitalverstümmelung entsprechend. Die mehr als fragwürdigen Empfehlungen des Deutschen Juristentages vergrößern somit die Gefahr erheblich, dass die weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland erlaubt wird. Die Lösung dieses Dilemmas kann nur sein, dass weder Mädchen noch Jungen in Deutschland – und möglichst auf der ganzen Welt – aus welchem Grund auch immer beschnitten oder an ihren Genitalien verstümmelt werden dürfen.”