Brief einer Mutter an ihren Sohn

Lieber L***,

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ich schreibe diesen Brief als Gedächtnisprotokoll für Dich und mich! Ich möchte Dir hiermit erklären, wie es dazu kam, dass du im April 2019 im Alter von 6 Jahren beschnitten wurdest!

2017 warst Du 4 Jahre alt und der damalige Kinderarzt wies mich darauf hin, dass Du eine Vorhautverengung hast. Ich war erstmal etwas überrascht, war doch für mein Empfinden zu dem Zeitpunkt mit Dir alles in Ordnung, und Du hattest für uns augenscheinlich keine Probleme! Wir haben dann eine Überweisung zum Kinderchirurgen bekommen mit der Aussage, der solle sich das mal angucken und als erstes könne man das ganze wohl mit einer Creme behandeln.

Ein paar Wochen später war ich dann mit dir bei Dr. D***. Er machte einen sehr offenen, erfahrenen und netten Eindruck auf mich. Er untersuchte Dich kurz und frage mich, ob uns irgendwelche Probleme aufgefallen seien. Ich antwortete, dass bis dato alles ok war. Daraufhin sagte er, wir könnten das Lösen der Verengung und Verklebung erstmal mit einer Salben-Therapie behandeln. Ich war natürlich erleichtert, dass das Thema Operation somit erstmal nicht im Raum stand.

Wir cremten wie vom Arzt verordnet, und Papa zeigte Dir vorsichtig, wie Du selbst beim Duschen Deine Vorhaut zurückziehen kannst. Bei der Nachkontrolle war Dr. D*** auch zufrieden mit den Fortschritten, und sollte es weiterhin keine sonstigen Beschwerden geben, sollten wir einfach abwarten und es "im Auge" behalten.

Anfang 2018 stand dann mit 5 Jahren die U9 an. In der Zwischenzeit hatte sich an der Phimose weder positiv noch negativ etwas verändert. Trotzdem bat uns der Kinderarzt, Dich erneut beim Kinderchirurgen vorzustellen. Dieser war erstmal weiterhin nicht besorgt und empfahl uns eine weitere Salben-Therapie. Diese führten wir wie beim ersten Mal durch, und auch diesmal stellte sich schnell eine deutliche Verbesserung der Verengung ein!

Ende 2018 jedoch sind Deinem Papa und mir dann ein Paar Sachen aufgefallen: die Phimose war plötzlich extrem eng und die Vorhaut ließ sich nun nicht mal ein kleines Stück zurück ziehen. Außerdem hatten wir das Gefühl, dass Urnieren sei etwas erschwert, und Du beklagtest Dich plötzlich öfter über Juckreiz. Wir beobachteten diese verschiedenen Symptome über ein paar Wochen und beschlossen dann Anfang 2019 zur Abklärung erneut zu Dr. D*** zu gehen.

Er untersuchte Dich und meinte relativ schnell, aus seiner Erfahrung heraus würde sich bei einer so starken Verengung nichts mehr zum positiven wenden, und auch auf Grund der von mir beschriebenen Beschwerden riete er nun dringlichst zu einer Operation! Im ersten Moment war ich schon sehr traurig darüber, dass Du jetzt doch operiert werden solltest, aber irgendwie auch etwas erleichtert, dass dieses Problem nun endlich ein Ende hat und es Dir danach hoffentlich "besser" geht!

Papa und ich haben noch lange  geredet was das richtige ist, vertrauten aber dem Arzt und wollten natürlich nur das Beste für Dich. Im April 2019 wurdest Du dann ambulant beschnitten. Auf sein Anraten hatten wir uns für die komplette Entfernung der Vorhaut entschieden, weil laut seiner Aussage die Teilbeschneidung zu erneuten Verengungen führen könne und das eine zweite OP bedeuten würde. Das wollten wir Dir natürlich ersparen! Die Operation an sich verlief ohne Komplikationen und nach zwei Wochen Kindergarten-Pause war soweit alles gut verheilt.

Anfang 2021 erfuhr ich zum ersten Mal, dass eine Phimose kein krankhafter Zustand ist und es eine neue Leitlinie gibt, die davon abrät, vor Ende der Pubertät zu beschneiden. Ich las alles was ich zu dem Thema finden konnte und musste realisieren, dass wir hier wahrscheinlich unwissend eine voreilige und falsche Entscheidung für Dich getroffen haben.

Es tut mir so leid, mein Schatz. Wir haben immer nur mit dem besten Gewissen gehandelt. Wir machen uns schwere Vorwürfe, dem Arzt so blind vertraut zu haben. Wir wurden einfach nicht richtig darüber aufgeklärt, dass die Beschneidung auch starke negative Folgen haben kann.

Wir wollen die Schuld aber nicht nur auf die beiden Ärzte abgeben. Wir als Eltern haben der OP letztendlich zugestimmt und die Verantwortung lag bei uns, eine gut durchdachte Entscheidung zu treffen. Dieser Schuld sind wir uns in vollem Umfang bewusst und hoffen von Herzen, dass Du uns verzeihen kannst! Uns ist bewusst geworden, dass diese Entscheidung nicht hätte unsere sein dürfen, es ist Dein Körper!

Wir lieben Dich und bieten Dir jede Hilfe und Unterstützung an die Du brauchst, um hoffentlich weiterhin gut damit leben zu können.

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In tiefer Liebe, Deine Mama!