Die Geister, die man rief - die Geschichte geht weiter

Die Geister, die man rief - die Geschichte geht weiter

Sekte fordert ein Recht auf Züchtigung mit Hinweis auf das deutsche "Beschneidungsgesetz"

 

Bereits Ende 2012, als die Beschneidungsdebatte in Deutschland und Europa in vollem Umfang geführt wurde, nahm ein ägyptischer Gynäkologe die geplante Legalisierung von Zwangsbeschneidungen in Deutschland - noch bevor diese vom Bundestag verabschiedet wurde - zum Anlass, den Vorstellungen von Eltern ein größeres Gewicht einzuräumen als den Rechten der Kinder und dem ihnen zustehenden Schutz. Damals forderte Mohamed Kandeel, neben der Vorhautamputation an minderjährigen Jungen auch diejenigen Formen der weiblichen Genitalverstümmelung zu legalisieren, die in ihrer Eingriffstiefe mit dem männlichen Pendant vergleichbar sind (Hierzu siehe auch die PM von MOGiS und Terre des Femmes).

Besorgniserregend ist, dass seitdem auch von Hochschullehrern wiederholt ähnlich argumentiert wird. Eine sich aus der erfolgten völligen Legalisierung von Vorhautamputationen rechtlich zwingend ergebene Aufweichung des Verbotes aller Formen weiblicher Genitalverstümmelung ist auch in Deutschland längst kein Tabu mehr.

 

In die gleiche Kerbe schlagen dieser Tage die 12 Stämme, eine christliche Sekte, die im vergangenen Jahr Schlagzeilen machte: 40 Kinder wurden von den Behörden in Obhut genommen, nachdem ein Reporter Videoaufnahmen einreichte, die kaum einen Zweifel daran ließen, dass die Kinder systematisch geschlagen worden waren.

 

Sie zeigten in der vergangenen Woche den Journalisten wegen "vorsätzlicher falscher Zeugenaussage und Fälschung beweiserheblicher Dokumente" an. Dabei bestreiten sie die Vorwürfe im Kern allerdings gar nicht, sondern berufen sich - ein aus ihrer Sicht cleverer Schachzug - indirekt auf den §1631d BGB. In diesem wird die Körperverletzung durch Vorhautamputation an männlichen Kindern - unter anderem auch aus religiösen Gründen - als dem Kindeswohl nicht grundsätzlich abträglich deklariert und sogar explizit erlaubt, besonders dann, wenn sie in ein erzieherisches Gesamtkonzept eingebunden ist. Und eben darauf berufen sich nun auch die 12 Stämme: "Es ist richtig, dass einzelne Eltern ihre Kinder gezüchtigt haben." Die Schläge würden aber bewusst so praktiziert, dass eine Misshandlung ausgeschlossen sei, denn: "Züchtigen ist ein Gesamtkonzept."

 

Es wird wiederholt deutlich, welches Fass der Gesetzgeber mit der völligen Rechtlosstellung von Jungen gegen Vorhautamputationen in § 1631d BGB aufgemacht hat und wie berechtigt die damalige Terre-des-Femmes-Vorsitzende Irmingard Schewe-Gerigk am 12.12.12 von einem "schwarzen Tag für die Kinderrechte" sprach. Nach den BefürworterInnen weiblicher Genitalverstümmelung treten jetzt die nächsten KinderrechtsgegnerInnen auf den Plan und berufen sich dabei wiederum auf §1631d BGB. Einzig den BefürworterInnen der Zwangsbeschneidung haben wir es also zu verdanken, dass man sich jetzt in Deutschland überhaupt ernsthaft juristisch mit einer solch dreisten Forderung wie der des Anwaltes der 12 Stämme beschäftigen muss. Dies resultiert aus der Tatsache, dass in §1631d BGB faktisch nicht die Rechte des Kindes, sondern die Motivation von Erwachsenen zum ausschlaggebenden Kriterium bei der gesetzlichen Bewertung von Kinderrechtsverletzungen erhoben wurde. Darauf können sich die 12 Stämme nun folgerichtig berufen.

 

Wenn es laut Heribert Prantl u.a. "Würdigung" eines Jungen ist, dessen Genital irreversibel lebenslang zu verletzen, ist z.B. ägyptischen und indonesischen Eltern nur schwer der Respekt zu verweigern, auch ihren Töchtern "Würdigungen" in ähnlichem Ausmaß und zunehmend sogar von MedizinerInnen ausgeführt angedeihen zu lassen. Und natürlich kann diesem Muster folgend auch eine "maßvolle Züchtigung" im besten Sinne (der Erwachsenen) erfolgen. Das auszuschließen würde im Sinne der §1631d-BefürworterInnen bedeuten, im Nachhinein die Eltern von Jahrtausenden zu kriminalisieren, auch heute Unzähligen pauschal böse Absichten zu unterstellen und Millionen zu Opfern zu erklären, die doch "ganz normale Lebenswege" vorweisen können.

 

Hoffentlich wird nun auch die breite Öffentlichkeit darauf aufmerksam, welch fatale Entwicklung in Deutschland am 12.12.12 mit der übereilten Verabschiedung des „Beschneidungsgesetzes“ ihren Anfang nahm - wie wir sehen, mit Folgen weit über das konkrete Thema hinaus. Wenn Menschenrechte zur Verhandlungssache werden, indem rechtsfremde angebliche "Abwägungsfragen" zwischen Kinderrechten und Erziehungsrecht konstruiert werden, fällt dies dem Rechtsstaat knallhart auf die Füße.

 

Interessant wird sein, ob und wie sich die großen Kinderschutzorganisationen in Deutschland wie Kinderschutzbund, Kinderhilfswerk und UNICEF Deutschland zu diesem Vorstoß äußern werden, erneut Kinderrechte angeblichem Erwachsenenrecht unterzuordnen.

 

MOGiS e.V. fordert aus diesem Anlass wiederholt die Rückkehr zur gesetzlichen Gewährleistung des Rechts des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung. Dazu unabdingbar ist die sofortige Streichung des sogenannten „Beschneidungsgesetzes“ § 1631d BGB. Wie von Anfang an befürchtet dient dieses – vom völligen Wegfall des staatlichen Schutzes von Jungen vor Zwangsbeschneidungen abgesehen – als Einfallstor für Vorstöße, weitere Kinderrechtsverletzungen gesetzlich zu legitimieren.

 

Kinder sind laut deutscher Verfassung und der UN-Kinderrechtskonvention Träger eigener unveräußerlicher Rechte. Sie müssen daher um ihrer selbst willen geschützt werden. Dieser Schutz  darf niemals je nach gesellschaftlicher Akzeptanz von Motivationen Erwachsener, Kinderrechte in Frage zu stellen, Relativierung erfahren. Da die gesellschaftliche Wahrnehmung und Bewertung verschiedener Erscheinungsformen von  Kinderrechtsverletzungen weltweit je nach Kulturkreis stark differiert, ist ein umfassender Schutz aller Kinder nur dann realisierbar, wenn die UN-Kinderrechtskonvention überall – d.h. ohne die Etablierung folgenschwerer Ausnahmeregelungen wie §1631d BGB - zur Durchsetzung gelangt.