Matthias Franz, Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 448 Seiten. ISBN 978-3-525-40455-3. 29,99 EUR.
Ein Urteil des Kölner Landgerichts stellte im Mai 2012 fest, dass gemäß unseres Grundgesetzes Jungen das gleiche unveräußerliche Recht wie Mädchen auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung besitzen. Dies umfasst auch den Schutz von Jungen vor nicht medizinisch indizierten Vorhautamputationen (verharmlosend "Beschneidungen" genannt). Dieses Urteil löste eine intensive gesellschaftliche und politische Debatte aus, in der die Stimmen negativ von einer Vorhautamputation betroffener Männer oftmals überhört, ausgeblendet und – im Gesetzesverfahren des Deutschen Bundestages - systematisch ausgegrenzt wurden.
Das nun erschienene Buch „Beschneidung von Jungen – ein trauriges Vermächtnis“ leistet einen sehr wichtigen Beitrag zu einer auf Wissenschaft und Ethik basierenden dringend notwendigen sachlichen Diskussion. Die im Facharbeitskreis Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V. organisierten Männer danken dem Herausgeber Prof. Dr. Matthias Franz und seinen MitautorInnen dafür, die Perspektive der Betroffenen mit ins Zentrum der Diskussion zu stellen. Es ist die Perspektive derer, die ungefragt zwangsbeschnitten wurden und noch heute als Erwachsene unter den Folgen leiden.
Prof. Dr. Volker von Loewenich, Dr. Christoph Kupferschmid, Prof. Dr. Maximilian Stehr und Dr. Mattias Schäfer beschreiben die eklatanten körperlichen Folgen von Vorhautamputationen. Dabei enttarnen sie die weit verbreitete Legende einer komplikationsfrei verlaufenden Operation: Stehr und Schäfer begründen überzeugend, dass schon der Verlust der Vorhaut an sich, nämlich eines umfangreichen Teils höchst erogenen Gewebes am Penis in seinen direkten Folgen für die sexuelle Empfindsamkeit als Komplikation zu bewerten sei. Dies ist für uns Betroffene eine sehr wichtige Klarstellung, da die Spätfolgen, die wir erleben, bisher durch keine Statistik erfasst werden.
Die größte Gruppe Betroffener in Deutschland sind Männer, die aus sogenannten medizinischen Gründen eine Vorhautamputation im Kindesalter erfuhren. Kupferschmid kritisiert eingehend die uneinheitliche Indikation und den großen Ermessensspielraum der behandelnden Ärzte, der in keinem Verhältnis zu der oft empfohlenen drastischen „Therapie“ stehe. Die Beschneidung sei schließlich eine risikobehaftete Operation mit irreparablen lebenslangen Folgen. Er beschreibt zudem, dass noch heute zu Unrecht viele Ärzte meinten, die Vorhaut des Knaben müsse schon früh zurückziehbar sein. Dies werde aber oft erst durch das Wachstum und den pubertären Hormonschub ausgelöst. In den meisten Fällen läge also bei beschwerdefreier Enge der Vorhaut vor Erreichen sexueller Reife kein pathologischer Befund und damit kein Therapiebedarf vor.
Die psychischen Folgen von Zwangsbeschneidungen, unter denen Betroffene aus unserem Facharbeitskreis leiden, erörtert Prof. Dr. Matthias Franz im längsten Beitrag des Buches. Hier sind hervorzuheben: der mit starken Ängsten beantwortete Kontrollverlust über den eigenen Körper, die als Verrat durch die Eltern empfundene Verschleierung dessen, was einem Jungen oft unter subtiler Androhung sozialer Ausgrenzung und Aussicht auf Geld und Geschenke an Schmerzen an intimster Stelle zugemutet wurde. Dies könne die betroffenen Jungen in tiefe emotionale Konflikte stürzen. Auch wirkt die wahrgenommene Fixierung Erwachsener auf das männliche kindliche Genital verstörend und wird als Übergriff in die Intimsphäre kleiner Jungen wahrgenommen.
Die von Franz beschriebenen psychischen Folgen wie schwere Schuldgefühle, Depressionen, Isolation, Beziehungsunfähigkeit und Angstzustände finden in der Lebensrealität von Betroffenen unseres Facharbeitskreises ihre traurige Bestätigung. Franz arbeitet die Wahrnehmung der Kinder als entscheidend für die Diskussion heraus. Nicht die Projektionen Erwachsener seien maßgeblich, oder was sie in den Eingriff hineininterpretieren, um z.B. eigene Verdrängungen aufrecht zu erhalten oder die Empathieverweigerung ihren Söhnen gegenüber „leisten“ zu können.
Franz spricht uns Betroffenen aus der Seele, wenn er die Gleichgültigkeit und Verweigerungshaltung sogar durch Fachkollegen anspricht: "Wie soll ein traumatisiertes Beschneidungsopfer als erwachsener Patient zu solchen Therapeuten Vertrauen fassen können?" Es bestätigt leider unsere Erfahrungen, dass betroffene Männer keine professionelle Hilfe finden. Es kam sogar mehrfach vor, dass sie in fachärztlichen Praxen ausgelacht wurden oder ihnen mitgeteilt wurde, bei ihnen sei doch alles "in Ordnung".
Sehr wichtig ist uns auch die Erwähnung einer tragischen historischen Parallele seitens der Politik (die von den Verantwortlichen freilich stets entrüstet verleugnet wird): So wie in Teilen der Partei Die Grünen in den 1980er Jahren Straffreiheit von sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern gefordert wurde und man Jahre später diesen verhängnisvollen Irrtum eingestehen musste, werde vermutlich auch von den jetzigen politischen Befürwortern der Zwangsbeschneidung an Jungen in der Zukunft in Anbetracht des durch Vorhautamputationen verursachten Leides Einsicht zu erwarten sein.
Prof. Dr. Rolf Herzberg, Prof. Dr. Holm Putzke und Dr. Jörg Scheinfeld erläutern detailliert die Verfassungswidrigkeit des am 12.12.12 vom Deutschen Bundestag beschlossenen § 1631 d BGB, der völligen lebenslangen Rechtlosstellung von Jungen gegen Zwangsbeschneidungen. Aus Betroffenenperspektive sind uns zwei Aspekte besonders erwähnenswert: zum einen die von Verteidigern eines angeblichen Elternrechts auf Zwangsbeschneidung ihrer Söhne versuchte Verlagerung der Diskussion auf ein angeblich beabsichtigtes „Verbot“ von Vorhautamputationen. Diese Verlagerung diene der Konstruktion eines Opferstatus für Zwangsbeschneidungen praktizierende Bevölkerungsgruppen und damit dem Versuch, die Debatte zu einer Frage von Toleranz gegenüber Minderheiten umzufunktionieren. Dies führe zu einer Emotionalisierung der Debatte, die eine nötige sachliche, faktenbasierte Diskussion erheblich erschwere. Tatsächlich könne es niemals um ein Verbot von Vorhautamputationen gehen, da sie bereits verboten seien. Medizinisch nicht notwendige Operationen ohne Einverständnis der betroffenen Person, ohne umfassende Risikoaufklärung und dann vielleicht noch ohne ausreichende Anästhesie waren schon immer und sind strafbare Körperverletzungen. Die Diskussion verlief niemals um etwas anderes als um eine Erlaubnis – auch der alternative Gesetzesentwurf stellte eine Erlaubnis unter gewissen Bedingungen dar.
Der zweite für uns wichtige Aspekt betrifft die von manchen Rechtsprofessoren zu vernehmende zynische Forderung, für eine Strafbarkeit von Vorhautamputationen müssten massenweise Traumatisierungen nachgewiesen werden. Auch dies erweist sich in der Erläuterung der Autoren als rechtsfremde Konstruktion. Denn für die Strafbarkeit von Körperverletzungen spielt es schlicht keine Rolle, wie das Opfer die zugefügten Verletzungen und deren Folgen individuell verarbeiten kann. Einem angeblich „normalen Lebensweg Milliarden beschnittener Männer“ stünden die Milliarden „normaler“ Lebenswege von Opfern anderer u.U. traumatischer Verletzungen entgegen, deren Strafbarkeit aber niemals in Zweifel gezogen wird.
Auch bliebe die Frage offen, ab welcher Zahl klinisch nachgewiesener Traumatisierungen Zwangsbeschnittener die Befürworter der jetzigen gesetzlichen „Regelung“ denn ihre Haltung zu überdenken bereit wären. Welches Ausmaß von Leid von Jungen und Männern wäre für sie ein noch angemessener Preis ihrer auf dem Rücken Wehrloser ausgetragenen selbstgerechten angeblichen „Toleranz“?
Prof. Dr. Andreas Gotzmann und Dr. Jérôme Segal bieten höchst interessante theologische und humanistische Einblicke in die jüdische Geschichte und Gegenwart. Es wird deutlich, dass dort "Beschneidungen" wesentlich vielschichtiger gesehen werden, als es in der öffentlichen Debatte von VerbandsvertreterInnen vernehmbar war.
Irmingard Schewe-Gerigk und Marlene Rupprecht schildern vor allem die skandalösen Vorgänge rund um das übereilte Gesetzesverfahren im Sommer und Herbst 2012, die die Mitglieder des Facharbeitskreises Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V. ja aus nächste Nähe erleben mussten. Für Schewe-Gerigk, ehemalige Vorstandsvorsitzende der Frauen- und Menschenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES, steht fest, dass es mit einem erfolgreichen und glaubhaften Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung unvereinbar sei, Vorhautamputationen an Jungen gesetzlich zu legalisieren. Kinderrechte müssten universell und von Geschlecht, Herkunft, Religion und Tradition unabhängig weltweit gelten.
Aus diesem umfangreichen Buch ließen sich noch unzählige schlüssige Argumentationen herausarbeiten oder Aussagen zitieren. Wir als von Zwangsbeschneidung betroffene Männer haben hier nur die uns wichtigsten Beispiele genannt.
Wir empfehlen dieses Buch allen als Lektüre, die sich an dieser elementar wichtigen Grundsatzdebatte beteiligen möchten. Der Vielschichtigkeit des Themas, das so viele Fragen aufwirft, wird es nach unserer Ansicht absolut gerecht. In diesem Buch kommen diejenigen zu Wort, die die Lügen der angeblichen Harmlosigkeit von Genitalverstümmelungen schon durch das Zeugnis ihres eigenen Erlebens endgültig widerlegen – wahrhaftig "ein trauriges Vermächtnis“.