MOGiS e.V. nimmt Stellung zu der Diskussion über Kinderrechte beim Deutschen Juristentag in Hannover
Man mag sich langsam die Frage stellen, ob es möglich ist, sich mit Verweis auf ein geplantes Jurastudium schon in den unteren Schulklassen vom Biologieunterricht freistellen zu lassen - so absurd sind wieder einmal die Vergleiche, die uns zum Thema Vorhautamputation bei Minderjährigen erreichen - diesmal vom 70. Deutschen Juristentag in Hannover.
Auf der Seite des Juristentages
http://www.djt.de/nachrichtenarchiv/meldungen/artikel/abteilung-strafrecht-kultur-und-religion/
wird Folgendes zitiert:
"Zu der in § 1631d Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) geregelten Beschneidung von Jungen äußerte sich der ehemalige Marburger Universitätsprofessor Dieter Rössner. Die Regelung sei ein „religionspolitisches Basta“ gewesen. Der Gesetzgeber habe vorschnell gehandelt und die empirischen Hintergründe nicht ausreichend ermittelt.
Dies stellten freilich in der anschließenden Diskussion sowohl der am Gesetzgebungsverfahren beteiligte ehemalige grüne Bundestagsabgeordnete Jerzy Montag als auch der Richter am Bundesgerichtshof (BGH) und Abteilungsreferent Prof. Henning Radtke in Frage. Radtke mahnte insgesamt „etwas mehr Nüchternheit in der Diskussion“ an. Über das elterliche Erziehungsrecht würden irrationale religiöse Gründe rationalisiert, so Dieter Rössner. Die Regelung stehe in eindeutigem Widerspruch zum Recht der Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung. Schließlich sei es entwürdigend, wenn aus religiösen Motiven dem Einzelnen für sein ganzes Leben lang eine Kennzeichnung seiner Religionszugehörigkeit beigebracht werde.
Dem wurde aus dem Teilnehmerkreis entgegengehalten, dass auch hygienische Gründe für eine Beschneidung ausreichend sein müssten. Anders als es das Gutachten von Prof. Tatjana Hörnle fordere, müsse die Motivation der Eltern keine tragende Säule von deren Erziehungskonzept sein. Der Gutachterin wurde auch vorgeworfen, sie überspanne die Anforderungen an die Hygiene, wenn sie Beschneidungen nur in Arztpraxen und Operationssälen zulasse. Schließlich machten Ärzte auch Hausbesuche und leisteten eine hygienisch einwandfreie Notversorgung bei Unfällen.
Hinsichtlich der in § 226a StGB unter Strafe gestellten Verstümmelung weiblicher Genitalien sprach sich die Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes Ramona Pisal deutlich gegen die vom vorgelegten Gutachten vorgeschlagene geschlechtsneutrale Formulierung der Vorschrift aus. Frauen und Mädchen seien in besonderer Weise betroffen, hob Pisal hervor. Außerdem plädierte sie für die Anhebung des Strafrahmens. In diesem Kontext betonte Gutachterin Hörnle in Reaktion auf eine Falschmeldung des Berliner Kurier, dass sie nicht die Beschneidung von Mädchen erlauben wolle, sondern sich vielmehr für eine Erhöhung der Strafe ausspreche."
Hier ist also allen Ernstes eingewandt worden, die gesetzliche Vorgabe, eine Vorhautamputation sei nach Regeln der ärztlichen Kunst auszuführen, beinhalte in Teilen eine angebliche "Überspannung der Hygienevorschriften". Ein Arztpraxenvorbehalt sei damit übertrieben - mit Hinweis auf Notversorgungen bei Unfällen sowie ärztlichen Hausbesuchen.
Um vorab das eigentlich Selbstverständliche klarzustellen: eine Vorhautamputation ist ein chirurgischer Eingriff und unterliegt damit nach geltenden Vorschriften selbstverständlich dem Vorbehalt, in einer Arztpraxis bzw. Operationssaal ausgeführt zu werden. Des weiteren handelt es sich bei dieser Operation nicht um einen Notfall. Sehr wohl aber gibt es (wie bei jeder Operation) die Gefahr von Komplikationen, die eine Notversorgung erforderlich machen können, die wiederum nur in einer Klinik sicher gewährleistet ist.
Aber zurück zur Absurdität der Vergleiche, die sich vielleicht im Querlesen nicht jedem sofort erschließen: ein Hausbesuch durch den Kinderarzt beinhaltet in aller Regel keine operativen Eingriffe. Handelsübliche Stethoskope zum Abhören der Bronchien werden auch heute noch äußerlich angewendet, und für die Verabreichung von Tropfen oder eines Zäpfchens werden die von Natur aus vorhandenen Körperöffnungen verwendet - ein Auf- oder Abschneiden findet zu diesem Zwecke nicht statt. Auch ist es nicht üblich, operative Eingriffe wie eine Mandel- oder Blinddarm-OP im Kinderbett oder auf dem Sofatisch durchzuführen - letzteres nicht zuletzt eben auch wegen der unzureichenden hygienischen Umstände. Selbst bei eigentlich wenig spektakulären Eingriffen wie der Öffnung eines entzündeten Atheroms führen Ärzte diese aus eben diesen Gründen nicht selten nicht einmal in der Praxis aus, sondern verweisen den Patienten in ein Krankenhaus. Vor diesem Hintergrund ist der Vergleich einer Vorhautamputation mit einem Hausbesuch durch den Kinderarzt mehr als hanebüchen.
Bliebe die Unfall-Notversorgung. Als erster Unterschied zur Vorhautamputation wäre schon einmal zu nennen, dass der Patient dort bereits vor Eintreffen des Arztes verwundet ist, und grade bei schwereren Unfällen möglicherweise mit dem Tode ringt. Wenn man nur Minuten hat, ein Leben zu retten, so sind mögliche Komplikationen durch suboptimale hygienische Bedingungen im Vergleich zur Alternative hier das kleinere Übel. Bei einer Vorhautamputation hingegen bleibt alle Zeit der Welt, optimale sterile Bedingungen zu schaffen, und es gibt keinen Grund, von dieser Vorgehensweise abzuweichen.
Es darf an dieser Stelle zumindest ernsthaft bezweifelt werden, dass auch nur einer der Teilnehmer in der Eingangs zitierten Runde die eigene Karpaltunnel-, Knie- oder Lifting-OP auch dann noch als "hygienisch einwandfrei" betrachten würde, wenn ihr Chirurg sie auf dem Gehweg vor ihrer Kanzlei auszuführen vorschlüge. Somit kann auch der Vergleich einer (nur in den seltensten Fällen überhaupt notwendigen) Genitaloperation mit der Unfallnotversorgung nur mehr als polemische Nebelkerze gesehen werden.
Dass nach all der Relativierung der zur Operation notwendigen Hygiene dann ausgerechnet hygienische Gründe (die es zumindest in den Industrienationen des 21. Jahrhunderts wohl kaum aufrecht zu erhalten gelingen dürfte) als ausreichend für eine Amputation eines Körperteils angesehen werden sollen, ist an Irrationalität kaum mehr zu überbieten. Wenn also unterm Strich der reine Gusto der Eltern als Begründung genügen soll, läge - denkt man den Gedanken logisch zu Ende - eigentlich auch dem Zungenpiercing oder dem Tattoo auf Grundschülers Oberarm kein konsequent haltbarer Stein mehr im Wege.
Prof. Rössner ist für die Feststellung, die gesetzliche Legalisierung von Vorhautamputationen sei vorschnell und auf unzureichender sachlicher Erörterung erfolgt und stünde dem geltenden Recht eines jeden Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung zuwider, zu danken. Dass dies ausgerechnet von Jerzy Montag, ehemaligem Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90 / Die Grünen bestritten wurde, überrascht nicht: schließlich war er im Gesetzgebungsverfahren im Herbst 2012 persönlich dafür mitverantwortlich, dass kein Vertreter negativ betroffener Männer im Rechtsausschuss sprechen durfte und steht damit exemplarisch für das rein ergebnisorientierte Handeln weiter Teile der Politik in dieser Thematik.
Als unnötig und nicht zielführend betrachten wir, dass auch bei grundsätzlich in unsere Richtung argumentierenden Fachleuten zu sehr die Religionen thematisiert werden. Es ist wichtig zu verstehen: das Recht von Kindern auf eine gewaltfreie Erziehung in §1631 BGB gilt UNEINGESCHRÄNKT, egal welche Motivation von Erwachsenen für eine Verletzung dieses Rechtes vorliegt. Die Diskussion über Religion ist also juristisch gesehen ein Nebenschauplatz, der die ganze Diskussion auf eine Ebene vermeintlicher Toleranz bzw. Intoleranz verschiebt - also auf eine Diskussion in Erwachsenenperspektive und nicht mehr über Kinderrechte - wobei es ein explizites Erwachsenenrecht auf vorbehaltlose Ausübung der eigenen religiösen Vorstellungen an Dritten (und auch die eigenen Kinder sind als eigenständige Personen Dritte) ohnehin nicht gibt, da dieses durch Artikel 136 Weimarer Verfassung in sehr enge Grenzen gesetzt wird. Außerdem geht dies an der Realität vorbei, denn eine sehr große Anzahl von Vorhautamputationen an Jungen weltweit wird ohne einen konkreten Bezug zu Religionen ausgeführt.
In dieser Debatte geht es nicht um Religion. Es geht um die Rechtes des Kindes auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung.
Es geht darum, dass ein medizinisch unnötiger irreversibler Eingriff nur nach umfassender Aufklärung über Risiken und Konsequenzen und in mündigem Einverständnis der Person erfolgen darf, die ALLEIN den Eingriff erdulden und für immer mit dessen Folgen leben muss.
Medizinisch nicht notwendige operative Eingriffe an Kindern waren und sind grundsätzlich verboten. Eltern können nicht in Stellvertretung für ihre Kinder rechtsgültig in diese einwilligen. Es ist wichtig zu verstehen, das auch dies GRUNDSÄTZLICH gilt! In §1631d BGB nun wird den Eltern nur für den Fall einer Vorhautamputation und nur wenn es sich bei dem Kind um einen Jungen handelt ausdrücklich gestattet, in eine solche medizinisch unnötige Operation einzuwilligen. Dies verdeutlicht, wie sehr dies einen Fremdkörper in unserem Rechtssystem darstellt und es damit schlichtweg auf den Kopf stellt.
In Bezug auf den Schutz von Mädchen und Frauen vor weiblicher Genitalverstümmelung (FGM) scheint beim Juristentag leider auch wenig Klarheit geherrscht zu haben.
Die zitierte Behauptung, Mädchen seien "besonders betroffen", stellt keine juristische Begründung für ein gesondertes Gesetz für Mädchen und Frauen dar. Mädchen sind unserer Meinung auch dann zu schützen, wenn die Invasivität der jeweiligen FGM – um in dieser fragwürdigen Definition zu bleiben - "nur normal" ausfällt, also in einem Ausmaß, das man Jungen von Gesetzes wegen zumutet. Dieses momentan in Augen des Gesetzgebers "normale" und zu duldende Ausmaß einer Genitalverstümmelung bedeutet de facto: die Entfernung von ca. 50% der gesamten am Genital befindlichen Haut inkl. des aufgrund der epidermischen Struktur sensibelsten Teils. (s. Stehr, Sorrell).
"Besonders betroffen" ist auch kein juristisches Kriterium für die grundsätzliche Einschätzung einer Körperverletzung. § 1631 BGB legt klar fest: für die grundsätzliche Rechtswidrigkeit einer Körperverletzung ist VÖLLIG UNERHEBLICH, ob sie besonders schlimm oder weniger schlimm ist, ob sie gravierende Folgen oder gar keine langfristigen Folgen nach sich zieht. Des weiteren löst der Ausschluss von männlichen Opfern in §226a StGB ja dessen Verfassungswidrigkeit und Angreifbarkeit aus. Auf dieser Basis zu argumentieren gefährdet also den Schutz von Mädchen. Dies wurde und wird von Seiten vieler mit FGM befassten Kinderrechtsorganisationen auch immer wieder betont.
Mit verfassungswidrigen Gesetzen verteidigt man keine Kinderrechte.
Die völlige Rechtslosstellung von Jungen gegen Vorhautamputationen in § 1631d BGB hat aus Deutschland ein Land gemacht, wo anerkannte Fachleute wieder darüber diskutieren, welchem Kinde welchen Geschlechts man wie viel abschneiden oder wie heftig man es züchtigen dürfe, dass dieses nach Ansicht von Erwachsenen dem Kindeswohl entsprechen könnte. Dass hierbei grade bei den Jungen immer wieder der Eindruck erweckt wird, sie bräuchten weniger Rechte, weniger Körperteile, kämen auch mit unwirksamen Schmerzbehandlungen aus und bräuchten für chirurgische Eingriffe auch kein steriles Umfeld, wirft ein sehr bedenkliches Licht auf die Wertschätzung, die ihnen hierzulande entgegengebracht wird - werden sie so doch zu Menschen zweiter Klasse degradiert, denen man den Schutz vorenthält, den man ihren weiblichen Altersgenossinnen ganz selbstverständlich zugesteht. Auch dieser Juristentag verdeutlicht: Es muss offensichtlich weiter intensiv für den für noch viele Menschen ungewohnten Gedanken geworben werden, dass sich die Begriffe "männlich" und "Opfer" nicht nativ widersprechen.
Vorstöße zur Relativierung und Aufweichung des Kinderschutzes werden so lange weiter bestehen und immer wieder in bekanntem und neuem Gewand auf die Tagesordnung treten, solange die völlige Legalisierung von nichttherapeutischen Vorhautamputationen an Jungen in § 1631d BGB gilt.
MOGiS e.V. fordert im Einvernehmen zahlreicher Verbände und NGOs die Streichung dieses verfassungswidrigen Paragraphen und stattdessen ein einheitliches Gesetz zum Schutz aller Kinder unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Tradition und Religion vor jeglicher Form nicht medizinisch notwendiger Eingriffe.
Zur Durchsetzung dieses Schutzes laden wir weiterhin zu einem intensiven Dialog ein: auf sachlich-wissenschaftlicher Basis, in gegenseitigem Respekt und immer aus der Perspektive derer, die sich nicht selbst äußern und schützen können und deshalb auf unseren besonderen Schutz angewiesen sind: der der Kinder.