USA: Weibliche Genitalverstümmelung vor Gericht – Kinderrechte am Scheideweg

Es steht eine Richtungsentscheidung an, wenn lang erkämpfte Mädchen- und Frauenrechte nicht in Frage gestellt werden sollen.

Ein Diskussionsbeitrag von Victor Schiering

 

Seit Juni des Jahres häuften sich Presseberichte in den USA zu einem Prozess gegen bis zu 100 Fälle weiblicher Genitalverstümmelung (FGM) in Michigan. Zum ersten Male überhaupt müssen Taten dieser Art in den USA vor Gericht verantwortet werden. Deutsche Medien berichten bisher überhaupt nicht darüber.

Ist hier ein wichtiges Ziel der weltweiten Bewegung zum Schutz von Mädchen vor FGM erreicht? Grundsätzlich ist dies natürlich zu bejahen. Und dennoch bleiben viele Fragen offen. Noch ist nämlich keineswegs klar, dass es hier zu angemessenen Urteilen kommen wird. Nach einigen Verhandlungstagen wurde die Haupt-Angeklagte, eine Notfallärztin, gegen eine hohe Kaution auf freien Fuß gesetzt.

Die genaue Untersuchung der Fälle hatte ergeben, dass an den Opfern sogenannte „weniger invasive“ Formen chirurgischer Genitalmodifikation vorgenommen worden waren. Man stellte „kleine Einschnitte“ an der Klitorisvorhaut und den inneren Labien fest. Auch dergleichen wird nach Klassifizierung der WHO als Genitalverstümmelung eingestuft.

Die Verteidigung indes gab an, mit männlicher Beschneidung sei schließlich „eine viel invasivere Praxis erlaubt“. So seien daraus folgernd die vorliegenden Fälle keine Genitalverstümmelung und durch die Religionsfreiheit der Eltern gedeckt gewesen. Einwände, die schwer von der Hand zu weisen sind und einer angemessenen Verurteilung im Wege stehen – will sich das Gericht nicht in offensichtlichen Widersprüchen verfangen.
 

Die Verwirklichung von Kinderrecht steht an einem Scheideweg:

Lässt sich die weltweite Forderung nach „Null-Toleranz bei FGM“ in einer Welt verwirklichen, die Jungen einen gleichen Schutz vorenthält? Können die Argumente für den Schutz von Mädchen und Frauen widerspruchsfrei überzeugen – und das müssen sie, denn er ist in vielen Teilen der Welt noch weit von einer Verwirklichung entfernt – wenn sie in aktuellen Gesetzgebungen nur für Jungen gültige Relativierungen erfahren? Welche Gefahr stellt die offene Missachtung des Gleichheitsgrundsatzes für die Durchsetzung von Menschenrecht dar?
 

Es lassen sich nun Stimmen vernehmen, die den Gleichheitsgrundsatz mit einer Aufweichung der Schutzrechte von Mädchen und Frauen (wieder) herstellen wollen. In der New York Times plädiert Alan M. Dershowitz, emiritierter Professor der Haward Law School, für die Akzeptanz eines steril ausgeführten Einstiches in die Klitorisvorhaut, um Mädchen vor schlimmeren Praktiken zu bewahren und Religionsfreiheit der Eltern zu sichern.

Romy Klimke schreibt in Beiträge zum Europa- und Völkerrecht: Das Heimliche Ritual – Weibliche Genitalverstümmelung MLU – Halle/Wittenberg 11/2015: “Ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau ließe sich letztlich nur umgehen, wenn einerseits §226a StGB mittels teleologischer Reduktion auf Eingriffe, welche in einem nicht medikalisierten Umfeld stattfinden, beschränkt oder andererseits die Entfernung der Klitorisvorhaut aus dem Tatbestand von §226a StGB herausgenommen und unter den Bedingungen des §1631d BGB ebenfalls legalisiert würde.”

Dies muss verwundern. Lässt sich der Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter nur mit einer Herabsetzung des Schutzes von Mädchen herstellen? Warum kommt man gar nicht auf die Idee, das Gleichbehandlungsgebot mit MEHR Schutz für ALLE KINDER zu garantieren?
 

Es ist zu offensichtlich:
Um Vorhautamputationen an Jungen als vermeintliches Elternrecht und religiöse Praxis - koste es was es wolle - zu "retten", wird der absolute Schutz von Mädchen und Frauen wieder in Frage gestellt. Insbesondere in den USA stehen Verfechter der Jungenbeschneidung unter zunehmendem Rechtfertigungsdruck. Die Öffentlichkeit soll womöglich darauf vorbereitet werden, dass die FGM-Fälle nicht zu hohen Strafen führen oder gleich ganz straffrei bleiben. Denn führten diese Fälle zu hohen Strafen, müssten konsequenterweise auch sämtliche Ärzte in den USA bestraft werden, die Jungen ohne jegliche medizinische Indikation mit der Vorhaut den sensibelsten Teil des Penis amputieren.

In Deutschland stehen wir vor genau der gleichen Situation: wird §226a StGB, der jegliche Formen von Genitalverstümmelung an Mädchen unter Strafe stellt, endlich einmal zur Anwendung kommen, wird jede Verteidigung auf die völlige Erlaubnis von Vorhautamputation an Jungen verweisen und die Gleichbehandlung der Geschlechter fordern.
 

Auch hier in Deutschland stehen wir alle vor dem Scheideweg: WENIGER oder MEHR Kinderschutz für ALLE? In Ignoranz der Faktenlage und ethischer Grundsätze haben viele Politiker*innen 2012 in der Beschneidungsdebatte diese Argumente weit von sich gewiesen und wurden dafür von Frauenrechtlerinnen scharf kritisiert. Die Wirklichkeit holt auch Deutschland spätestens jetzt mit den Fällen in den USA ein. Solange Vorhautamputationen an Jungen erlaubt sind, bleiben zwei der wichtigsten und hart erkämpften Ziele der Frauenrechtsbewegungen – die Gleichberechtigung der Geschlechter und Null-Toleranz bei weiblicher Genitalverstümmelung – nicht miteinander vereinbar. 
 

Wir brauchen jetzt eine neue Debatte zur Verwirklichung unteilbarer Kinderrechte.